schwester schmerz

Neulich erzählte ich einem Freund von der Figurengruppe „Der Schöpfer und seine Schwester, der Schmerz“ des Bildhauers František Bílek, und musste mich gleich korrigieren, weil mein Freund nachhakte und meinte, es sei wohl der Schöpfergott, der hier dargestellt ist. Im Tschechischen aber wird tvůrce – Schöpfer nahezu synonym zu Künstler verwendet, ich hätte also den Titel vielleicht besser übersetzt als „Der Künstler und seine Schwester, der Schmerz“. Die Figurengruppe ziert das Grab des Dichters Otokar Březina in Jaroměřice; die Skulptur des „Schöpfers“ hält eine Lyra in der Hand; hat man sie vor Augen, gibt es keinen Zweifel daran, dass hier nicht der Erschaffer der Welt und jenes böhmisch-mährischen Hochplateaus abgebildet ist, in dessen Süden die malerische Barockstadt Jaroměřice liegt, sondern der Künstler und sogar genauer, der Dichter.

Warum hat Bílek sich nicht für die Bezeichnung umělec (Künstler – wie im Deutschen steckt darin die Wortwurzel können) oder básník (Dichter) entschieden? Vielleicht, weil in tvůrce der göttliche Ursprung des künstlerischen Schaffens, nicht nur als Poesie, sondern als Poiesis gegenwärtig ist? Wie auch immer, über die Übersetzung von tvůrce bin ich eher zufällig gestolpert, denn eigentlich führt mich der zweite Teil von Bíleks Figurengruppe an Březinas Grab: Die Schwester, der Schmerz. Der Künstlerschöpfer selbst ist in gebeugter Haltung dargestellt, den Kopf weit nach vorne geneigt, die Lyra mit beiden Händen eng an die Brust gedrückt. Neben ihm, etwas höher aufragend, eine Frau, die den lang bewandeten Arm um ihn hält.

 

Die Grammatik bestimmt das Bewusstsein

Die Allegorie des Schmerzes begegnet uns, wie vermutet wird, auf Březinas Grab deshalb als Schwester, weil bolest – Schmerz im Tschechischen ein Substantiv mit femininem Genus ist. Wäre Bílek ein deutscher Bildhauer und der von ihm verehrte Dichter ein deutscher Künstler, so die Annahme, würde man auf dem Grab in Jaroměřice zwei Männer sehen, neben dem Dichter träte der Schmerz, der ständige Begleiter seines schöpferischen Tuns, als sein Bruder auf.

Der tschechische Linguist und Schriftsteller Pavel Eisner, der dem Prager Literatenzirkel um Kafka und Brod angehörte und in der Lage gewesen sein soll, aus 13 europäischen Sprachen zu übersetzen, wies schon früh (1946 in seinem Buch über das Tschechische) darauf hin, dass patriarchalische Strukturen unsere Sprachen tief geprägt haben.Was, wie Eisner bemerkte, im Tschechischen zu der fragwürdigen Tatsache führt, dass eine Königin und eine Fürstin, die gemeinsam in einer Kutsche reisten, dem Kutscher zwar Befehle erteilten, sich die Bezeichnung für diese kleine Gesellschaft grammatisch jedoch nach dessen männlichem Geschlecht richtete (in diesem Fall ist es die Endung des Verbs „reisten“, die sich im Präteritum nach dem Geschlecht des reisenden Subjekts richtet; dabei werden weibliche Endungen im Plural nur für reine Frauengruppen verwendet). Eisner machte darauf aufmerksam, wie schwierig es sein würde, das zu ändern, vor allem dort, wo der Ausdruck des Geschlechts tief in den grammatischen Strukturen verankert ist. In vielen Sprachen ist es nicht möglich, die Zeile „Ich ging im Walde so für mich hin“ zu übersetzen, ohne mitzuteilen, ob da ein Mann oder eine Frau durchs Grüne schlendert. Man müsste, wollte man das beschädigte Geschlechterverhältnis entsprechend reparieren, Eingriffe vornehmen, die in ihrer Dimension so gravierend wären, als würde man im Deutschen Artikel und Adjektive nicht mehr an das Geschlecht des Substantivs angleichen: Ich bin ein klug Frau, du bist ein gut Mann. Endlich sind wir ein gerecht Gesellschaft!

Solche Probleme sprechen natürlich überhaupt nicht gegen die Bemühungen um eine gendergerechtere Sprache, sie zeigen nur, dass man sich im Dschungel wild wachsender und daher nicht immer logischer Strukturen ziemlich verhaken kann. Und es wird noch komplizierter, wenn wir von der einen in die andere Sprache übersetzen. Denn es ist zwar kaum umstritten, dass die Sprache das Bewusstsein prägt und jedes Idiom eine seinen Sprecherinnen „eigenthümliche Weltsicht“ (Wilhelm von Humboldt) hervorbringt. Doch wie eng ist dieser Zusammenhang, und wie viel von der „Weltsicht“ geht auf dem Weg von der einen in die andere Sprache verloren?

Bei der Übersetzung von Allegorien treten die Konturen dieser Fragen besonders deutlich hervor. Aus Pasternaks „Meine Schwester, das Leben“ (Sestra moja – žizň) müsste in der tschechischen Übersetzung „Mein Bruder, der Leben“ werden, denn russisch žizň ist feminin, tschechisch život ist maskulin (die Übersetzung „Mein Kind, das Leben“ mag ich gar nicht vorschlagen). Solche Geschlechtsumwandlungen sind natürlich wenig sinnvoll, weshalb wir die Allegorien von Bílek und Pasternak wie im Original als „Schwester“ übersetzen. Auch kann die deutsche Fassung von Rudolf Karels Oper Smrt kmotřička nur Gevatterin Tod heißen, denn der Tod, der bei Karel als Frau die Bühne betritt, lässt sich schlecht durch eine männliche Rolle austauschen, das wäre, selbst wenn man die Rolle mit einem Altus oder Countertenor besetzte, bei einer Oper irgendwie noch abwegiger als in einem Roman oder Theaterstück.

Dennoch bedeuten sprachliche Unterschiede nicht zwingend, dass der Knochenmann in Tschechien unbekannt ist und man sich hier den Tod aus- schließlich als greise Alte (stařena) vorstellt; dass der Sensenmann den Franzosen immer als große Mäherin (grande faucheuse) erscheint, den Italienern hingegen, trotz des femininen Genus von la morte, als dunkler Mäher (cupo mietitore). In den meisten europäischen Ländern sind weibliche und männliche Vorstellungen des Todes bekannt; vermutlich, weil die Wahrnehmung zumindest in diesem Fall nicht nur durch die sprachlichen Grenzen unserer Welt (Wittgenstein) determiniert, sondern auch durch die ikonographische Tradition geprägt ist.

 

Das böse und das gute Volk

Březina starb 1929, das von Bílek gestaltete Grabmal wurde 1932 fertiggestellt, wenige Jahre, ehe Europa den Tod in ganz neuer Gestalt als „Meister aus Deutschland“ kennenlernen sollte. Als Vertreter eines „deutschen Volkes“, das sich daran machte, den Kontinent in tiefste Barbarei zu stürzen. Seither lastet auf dem deutschen Volk ein dunkles Erbe, von dem auch das deutsche Wort Volk nicht ganz frei ist. Dreht man es in die falsche Richtung, leitet also nicht eher vielversprechende Dinge wie das Volksbegehren oder den Völkerfrieden davon ab, sondern denkt, wie es Mitgliedern der AfD hin und wieder passiert, „aus Versehen“ in Richtung völkisch, ist man gleich wieder bei den Nazis; bei Menschen mit extrem menschenfeindlicher Gesinnung.

In der Herkunft des altgermanischen Substantivs und mittelhochdeutschen volc vermutet man zum einen eine indoeuropäische Wurzel, die viel bedeutet, verwandt mit dem lateinischen plebs (einfaches Volk, Pöbel, im Gegensatz zu den wenigen Privilegierten), zum anderen hat sich darin die wohl älteste Bedeutung „Kriegerschar, Heerhaufe“ erhalten. Als letztere scheint das deutsche volc oder folk auch im übertragenen Sinne bei den slawischen Nachbarn eingefallen zu sein: Aus dem germanischen Lehnwort fulka wurde die slawische Wortwurzel pulk-, die dann in der Bedeutung von der Pulk wieder ins Deutsche zurückwanderte.

Dass wir seit dem zweiten Weltkrieg ein gebrochenes Verhältnis zum

„deutschen Volk“, seinen Liedern und Traditionen haben, ist bekannt (und verständlich); auch, dass wir uns darin von den meisten anderen Europäern unterscheiden. Was für uns mit Schuld und Scham verbunden ist, füllen unsere Nachbarn noch heute voller Stolz mit Leben.

Auch im Tschechischen könnte das Bedeutungsfeld, in dem sich das Wort lid (Volk) bewegt, kaum weiter von unserem Volk entfernt sein. Die Wurzel lid steckt im Plural von člověk (Mensch), der ähnlich wie im Englischen irregulär gebildet wird (engl.: man/personpeople, tschech.: člověklidé/lidi). Doch die Verwandtschaft zwischen Volk und Mensch reicht hier noch viel weiter. Lid steckt auch in Menschheit – lidstvo, menschlichlidský und in der davon abgeleiteten Menschlichkeit – lidskost/lidství. Während es im Deutschen zwischen den Bezeichnungen für „Mensch“ und „Volk“ nicht die geringste Verbindung gibt, gelangt man im Tschechischen durch fließende Übergänge vom Menschen zum Volk und von da aus zur Menschlichkeit.

Als der Historiker František Palacký, später als „Vater der tschechischen Nation“ geehrt, 1848 zur Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche eingeladen wurde, lehnte er die Teilnahme ab; Palacký wollte nicht über eine Zukunft diskutieren, in der das tschechische und das deutsche Volk in den Grenzen eines gemeinsamen Deutschen Reichs aufgingen. Wie viele tschechische Intellektuelle hatte Palacký seine Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren zunächst in deutscher Sprache begonnen, gerade während der

1848/49er Revolution aber ins Tschechische gewechselt, das, lange Jahrhunderte die Sprache des „einfachen Volks“, erst im Zuge der Nationalen Wiedergeburt überhaupt zu einem in allen Bereichen des öffentlichen Lebens funktionsfähigen Idiom ausgebaut wurde. Der protestantisch erzogene Palacký erklärte die im 14. Jahrhundert von Jan Hus begonnene Reformation zum zentralen Ereignis der tschechischen Geschichte. Hus, der in der Volkssprache predigte und liturgische Texte ins Tschechische übersetzte, begründete dieser Lesart zufolge die Entstehung eines spezifisch tschechischen Charakters, der sich durch Nähe zu den Menschen und Solidarität mit den Armen auszeichnete.

                  Fast fünfzig Jahre später greift Tomáš Garrigue Masaryk in seiner Schrift Die tschechische Frage Palackýs Idee wieder auf. Auch Masaryk zufolge findet die tschechische Nation im von Hus und den böhmischen Brüdern geprägten Humanismus ihren geschichtsmetaphysischen Sinn.

Politisch wurde die „tschechische Frage“ nach dem Zerfall Österreich- Ungarns mit der Gründung des Tschechoslowakischen Staates beantwortet, Masaryk dessen erster Präsident; ein Philosophenpräsident, der die Fahne des Humanismus hochhielt, als die hell leuchtenden Fackeln faschistischer Bürgerwehren die Nachbarländer um ihn herum in politische Finsternis tauchten. Und obwohl Masaryks geschichtsphilosophische These einen langen Historikerstreit auslöste und – wie die meisten teleologischen Historienentwürfe – einem positivistischen Geschichtsbild weichen musste, kehrte sie im 20. Jahrhundert noch einmal zurück, als die Tschechen ein Experiment wagten, in dem wieder die Wortwurzel lid steckt: socialismus s lidskou tváří – den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.

 

Böhmische Dörfer

Palacký und Masaryk haben die „tschechische Frage“ im 19. Jahrhundert mit dem Entwurf eines Geschichtsbilds beantwortet, das sich auch in der morphologischen Verwandtschaft von lid– Volk, lidstvo – Menschheit und lidskost – Menschlichkeit widerspiegelt. Und wenngleich, wie der Lyriker Jonáš Hájek mir erklärt, das Wort lid auch im Tschechischen etwas aus der Mode gekommen ist, weil es heute vor allem an den „Aufbau des Sozialismus“ erinnert, frage ich mich, was dieser enge Zusammenhang im Hinblick auf die Übereinstimmung von „Sprache“ und „Welt“ bedeutet? Sind, da im Tschechischen fließende Übergänge zwischen Mensch, Volk und Menschlichkeit bestehen, auch die physischen Grenzen zwischen dem Volk und allen Menschen durchlässiger? Reicht die Performativität der Sprache so weit, dass ein in Humanismus getränkter Volksbegriff eine Politik der Offenheit begründet? (Ganz im Sinne jenes „Alle Menschen werden Brüder“, in dem die Völker Europas 1848 glaubten, Nationen werden zu können, ohne dieses Versprechen zu verraten?) Oder hat sich die Wirkung der sprachlichen Verwandtschaft zusammen mit dem Geschichtsbild abgeschliffen? Und nicht zuletzt: Von wem ist eigentlich die Rede, wenn die Tschechen lid český

tschechisches Volk sagen?

Schon stolpere ich über das nächste sprachliche Hindernis. Anders als im Deutschen, das zwischen tschechisch und böhmisch unterscheidet, bedeutet die Übersetzung český sowohl tschechisch als auch böhmisch. Daher stritten unsere Nachbarn lange darüber, inwiefern český sich als Bezeichnung für das Staatsvolk der Česká Republika eignet. Denn während viele Böhmen sagen: Wir alle in Böhmen, Mähren und den auf unserem Staatsgebiet liegenden Teilen Schlesiens sind damit gemeint, klagen andere, vor allem in Mähren: Wir nicht!

Als es am 1. Januar 1993 ohne ein Referendum überraschend zur Scheidung der Tschechoslowakischen Republik kam, wurde unter anderem diskutiert, ob der neue Staat nicht Českomoravsko heißen müsste, was immer noch die Schlesier ausgeschlossen hätte und zudem ähnlich künstlich klingt wie eine etwaige Übersetzung als „Böhmenmähren“. Auch wären viele Probleme damit nicht gelöst; immer noch ließe sich nur mithilfe des Kontexts entscheiden, ob etwa der Komponist Josef Suk im „Tschechischen“ oder doch nur im „Böhmischen Streichquartett“ spielte, und ob es sich bei der Česká moderna um eine tschechische oder böhmische Moderne handelte (dieser in den 1890er Jahren entstandenen Gruppe von Literaten gehörte auch Otokar Březina an). Wobei das vielleicht den Charme des Tschechischen ausmacht: Wo das Deutsche präzise ist, bleibt es oft vage und im Ungefähren. Oder, wie die Lyrikerin Božena Správcová schreibt: Der eine redigiert mit dem „scharf gespitzten deutschen Bleistift“, der andere nutzt den „geschmeidigen tschechischen Radiergummi“, um allzu scharfe Kanten zu verwischen. Vielleicht weiß deshalb niemand so genau, wo eigentlich die böhmischen, bzw., wie man im Tschechischen sagt, die spanischen Dörfer liegen.

 

The Breathshow

Performance von Maren Strack

Komposition und Klangregie: Kerstin Lücker

Künstlerische Leitung: Johan Lorbeer

2023

Frauen am Herd

Performance von Maren Strack. In Zusammenarbeit mit Johan Lorbeer. Klangregie: Kerstin Lücker 2022

Sonate für Pumpen und tüten

Performance von Maren Strack. Potsch Potschka, Mit: Johan Lorbeer, Tonregie: Kerstin Lücker

https://arc.net/l/quote/yqvipruc

 

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